Trauerprozesse verstehen – Interview mit einer Therapeutin
Nach dem Verlust eines Sternenkindes bricht für Eltern die Welt zusammen. Die Trauer ist tief, einzigartig und oft schwer in Worte zu fassen. Viele fragen sich: Ist das normal, was ich fühle? Werde ich jemals wieder Freude empfinden können?
Um Antworten zu geben, haben wir mit Dr. Anna Keller, Psychotherapeutin und Trauerbegleiterin, gesprochen. Sie begleitet seit vielen Jahren Eltern nach stillen Geburten. Im Gespräch erklärt sie, wie Trauerprozesse verlaufen, warum Mütter und Väter unterschiedlich trauern können und wann Unterstützung hilfreich ist.
Interview mit Dr. Anna Keller, Psychotherapeutin und Trauerbegleiterin, über Trauerprozesse
Frage: Frau Dr. Keller, wie erleben Eltern die ersten Monate nach einer stillen Geburt?
Dr. Keller:
Die ersten Monate sind oft geprägt von einer Mischung aus Schock, tiefer Trauer und dem Gefühl, dass das Leben stillsteht. Viele Mütter erleben zusätzlich die körperlichen Nachwirkungen der Geburt – Wochenfluss, Milchbildung, hormonelle Umstellungen. Väter fühlen sich häufig in der Rolle des „Starken“. Beide sind gleichermaßen betroffen, aber die Ausdrucksformen unterscheiden sich.
Frage: Gibt es typische Phasen der Trauer?
Dr. Keller:
Ja und nein. In der Trauerforschung spricht man von verschiedenen Phasen: Schock, Verleugnung, Schmerz, Neuorientierung. Aber: Diese Phasen laufen nicht linear ab. Eltern wechseln hin und her – es gibt Tage voller Verzweiflung und dann wieder Momente, die leichter wirken. Das ist normal. Trauer ist kein gerader Weg, sondern ein individueller Prozess.
Frage: Viele Eltern machen sich Sorgen: „Trauere ich richtig?“ – Gibt es ein „richtiges“ Trauern?
Dr. Keller:
Nein. Jede Mutter, jeder Vater trauert auf die eigene Weise. Manche brauchen viel Austausch, andere ziehen sich zurück. Manche weinen täglich, andere selten. Wichtig ist, dass Gefühle Raum haben dürfen. Richtig ist das, was dem eigenen Herzen entspricht.
Frage: Wann ist es sinnvoll, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Dr. Keller:
Ich sage immer: Man muss nicht „krank“ sein, um Hilfe zu suchen. Schon wenige Gespräche können entlasten. Therapeutische Unterstützung ist besonders dann sinnvoll, wenn Eltern das Gefühl haben, sie kommen allein nicht weiter:
wenn Schuldgefühle übermächtig werden
wenn Ängste oder Panik den Alltag bestimmen
wenn die Partnerschaft stark belastet ist
oder wenn die Trauer wie eine Mauer bleibt und keinen Raum für anderes lässt.
Frage: Viele Eltern wünschen sich, dass ihre Trauer anerkannt wird. Warum ist das so wichtig?
Dr. Keller:
Weil Trauer ohne Anerkennung unsichtbar bleibt. Eine stille Geburt bedeutet: Es gibt kein gemeinsames Fotoalbum, keinen Alltag mit dem Kind. Wenn das Umfeld dann schweigt oder verharmlost („Ihr könnt ja noch ein Kind bekommen“), fühlen sich Eltern doppelt allein. Die Anerkennung des Kindes, des Verlustes und der Trauer ist ein zentraler Teil des Heilungsweges.
Frage: Welche Rolle spielen Rituale?
Dr. Keller:
Eine sehr große. Rituale sind Brücken. Sie übersetzen Gefühle in Handlung. Eine Kerze anzünden, einen Brief schreiben, einen Stern am Himmel suchen – all das hilft, die Verbindung zum Kind zu bewahren. Viele Eltern schöpfen Kraft aus solchen Gesten.
Frage: Was geben Sie Eltern als Botschaft mit?
Dr. Keller:
Trauer ist Liebe. Wenn der Schmerz groß ist, bedeutet das, dass die Liebe zu diesem Kind groß ist. Mit der Zeit verändert sich Trauer – sie wird nicht verschwinden, aber sie bekommt eine andere Gestalt. Ihr Sternenkind bleibt Teil eures Lebens, in Erinnerung, in Ritualen, in eurer Geschichte. Ihr dürft Hilfe annehmen und euch Zeit lassen.
Fazit
Ein Sternenkind zu verlieren, ist ein tiefer Einschnitt ins Leben. Die Trauerwege sind vielfältig, individuell und oft lang. Das Gespräch mit einer erfahrenen Therapeutin zeigt: Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg – aber es gibt Möglichkeiten, die Trauer zu verstehen und Wege der Begleitung zu finden.
💜 Du musst nicht alleine gehen. Hilfe, Austausch und Rituale können Brücken sein.

